Die Wahrheit über Mexico City
Keines unserer Reiseziele rief in unserem Umfeld negativere Reaktionen hervor
als die mexikanische Hauptstadt mit ihren geschätzt 23 Millionen Einwohnern: „Mexiko Stadt? Mit dem Smog und der Kriminalität? Was sollen die Kinder in dem Moloch?“ und der Klassiker:“Passt bloß auf eure Sachen auf“. Jeder scheint irgendwie irgendjemanden zu kennen, der in Mexico City schon mal wahlweise beklaut, bedroht, ausgeraubt oder entführt wurde. Von der Erdbebengefahr und dem nahegelegenen aktiven Vulkan Popocatepetl mal ganz zu schweigen.
Nun sind Großstädte ja prinzipiell mit Kleinkindern ein eher schwieriges Terrain, nicht nur in Mexiko. Diesbezüglich haben wir auch in Europa (Lissabon!) schon unsere schlechten Erfahrungen gesammelt.
Dennoch war ich gerade in Mexiko nicht bereit, auf das Herz des Landes zu verzichten. Hauptstädte faszinieren mich immer, da sich dort meist alles, was ein Land ausmacht, verdichtet. Und was ich über Mexico City, diese Metropole der Superlativen mit ihrer unglaublichen Geschichte, gelesen hatte, stachelte meine Neugierde noch mehr an.
Abgesehen davon habe ich noch nie erlebt, dass die Horrorgeschichten über einen Ort auch nur annähernd der Wahrheit entsprachen. Es geht nichts darüber, sich selbst ein Bild zu machen!
Also mietete ich ein hübsches Apartment mit Dachterrasse und Popocatepetl-Blick, mitten im Zentrum (selten habe ich für eine Stadt bessere Airbnb-Angebote gesehen) und stimmte die Kinder mit spannenden Geschichten über die sagenhafte, versunkene Stadt Tenochtitlan auf unseren Aufenthalt ein.
Mit offenem Mund lauschten sie, als ich ihnen von der schönsten Stadt Amerikas erzählte, dem Zentrum des mächtigen und grausamen Aztekenreichs, auf einer Insel im See gelegen – ein indianisches Venedig voller Kanäle, schwimmender Gärten und himmelhoher Pyramiden. Und von dem kleinen Häuflein habgieriger Abenteurer aus Spanien, die dieses ganze wundersame Tenochtitlan unbegreiflicherweise dem Erdboden gleichmachen und auf den Trümmern ihre eigene gewaltige Metropole, Mexico City, errichten konnten.
„Aber wo ist der See hin, Mama?“ Dieser Teil der Geschichte war unseren Kindern am unbegreiflichsten. Tatsächlich leidet die einstige Inselstadt nach der schleichenden Trockenlegung des Sees heute an dramatischer Wasserknappheit aufgrund eines ständig sinkenden Grundwasserspiegels. Ganz Mexico City versackt allmählich auf dem porösen Untergrund und liegt heute angeblich 10 Meter tiefer als vor 70 Jahren! Auch das wollten mir die Kinder nicht glauben, doch sie sollten bald Beweise sehen.
Egal, was uns in Mexico City erwarten würde, allein wegen der Zeugnisse seiner faszinierenden Vergangenheit musste ich dorthin.
Um es vorweg zu nehmen: Die Stadt übertraf meine Erwartungen in jeder Hinsicht.
Hier also unsere (natürlich völlig subjektive) Wahrheit über eine vielgeschmähte Metropole:
Was wir in Mexico City fanden
-Prächtige Architektur: Seien es wunderschöne Kolonialkirchen, Belle Epoque-Paläste, Art-Deco-Wolkenkratzer, herrschaftliche Boulevards – wo man hinschaut, stehen in Mexico City eindrucksvolle Gebäude. Vor allem die Altstadt ist ein Fest für die Augen.
-Genauso freundliche, hilfsbereite und entspannte Menschen wie im Rest von Mexiko. Und ja, das galt auch für Taxifahrer und Polizisten!
-Viel, viel Grün, unter anderem im größten Stadtpark, den ich je betreten habe: Im Chapultepec-Park finden sich Seen, Wälder, ein riesiger Zoo (mit Pandabären), acht Museen, Botanische Gärten, zahllose Kinderattraktionen (s.u.) und sogar ein Schloss aus dem 18. Jahrhundert!
-Jede Menge Kinderattraktionen: Parks en masse, teils mit riesigen Spielplätzen, interaktive Kindermuseen, Luftballonverkäufer und Straßenkünstler überall, Doppeldeckerbusse und Fahrradrikschas, und einen Vergnügungspark, der für gerade mal 5 € Eintritt unseren Kindern den (O-Ton) „schönsten Tag der ganzen Reise“ bescherte
-Ein überwältigendes kulturelles Angebot: Es gibt in Mexico City 71 Theater, ca. 100 Galerien und über 150 Museen! Darunter weltberühmte wie das fantastische Anthropologische Museum, wo es sogar unsere Kleinkinder fast zwei Stunden aushielten. Ein weiteres kulturelles Highlight (vor allem für unsere Sechsjährige) war der Besuch des „Ballet Folklorico“ im wunderschönen Palacio de Bellas Artes.
-Einen engagierten Kampf gegen die Luftverschmutzung: Kostenlose Leihfahrräder an allen zentralen Plätzen, Radwege, Fahrradrikschas, autofreie Sonntage auf der größten Durchgangsstraße der Innenstadt und vor allem das drakonisch durchgesetzte „Hoy no Circula“-Gesetz, das jedem Auto einen Wochentag Zwangspause verordnet. An den Umweltmaßnahmen, die Mexico City in den letzten Jahren in die Wege geleitet hat, könnte sich manche deutsche Großstadt ein Beispiel nehmen.
-Lebendige Geschichte: Nichts als Superlativen! Das Herz Mexico Citys, der gewaltige Zocalo (Amerikas ältester und größter Stadtplatz) mit der größten Kathedrale Amerikas und dem riesigen kolonialen Nationalpalast (mit Diego Rivieras monumentalen Wandfresken) ist an sich schon ein überwältigendes Zeugnis spanisch-mexikanischer Geschichte. Doch zwischen all der kolonialen Pracht kann man dort auch durch die beeindruckende Ausgrabungsstätte des Großen Tempels von Tenochtitlan wandeln, denn genau hier lag auch das Zentrum des gesamten Aztekenreichs. Eine solch geballte und optisch eindrucksvolle Konzentration an Geschichte findet sich wohl nur an wenigen Orten dieser Welt.
-Schiefe Gebäude allerorten! Die halbe Altstadt versinkt einem förmlich vor den Augen, darunter auch die gewaltige Kathedrale. Ganze Straßenzüge sind schief und krumm, und viele alte Kirchen liegen mehrere Meter unter heutigem Straßenniveau. Warum nicht alles zusammenbricht (zumal in einem Erdbebengebiet), das muss mir ein Statiker mal erklären. Unsere Kinder fanden das verständlicherweise sowohl faszinierend als auch beängstigend. Jeden Abend vor dem Einschlafen fragte unsere Kleine: „Mama, versinken wir auch langsam?“
–Fußgängerfreundlichkeit: Auch außerhalb der Parks lässt es sich in Mexico City erstaunlich gut flanieren, nicht nur in den vielen Fußgängerzonen der Altstadt, sondern auch in idyllischen Vororten mit Dorfatmosphäre wie San Angel oder Coyoacan (Geburtsort von Frida Kahlo).
Was wir in Mexico City nicht fanden:
–Kriminalität und Gewalt oder auch nur das geringste Gefühl von Bedrohung. Ich will damit nicht sagen, dass diese nicht existieren. Mein subjektives Sicherheitsempfinden (verstärkt durch ein entspanntes Straßenleben und eine hohe Polizeipräsenz) war hier aber sehr viel größer als in anderen lateinamerikanischen Großstädten.
–Gute Luft: Die Straßen, Plätze und Parks in Mexico City sind so sauber wie in jeder europäischen Stadt, aber es lässt sich nicht leugnen, dass die Stadt trotz aller Maßnahmen nach wie vor ein gewaltiges Smog-Problem hat. Allerdings haben wir auch Tage mit strahlend blauem Himmel erlebt, an denen die Luft besser schmeckte als in Stuttgart (ok, das heißt nicht viel, aber trotzdem…)
–Unseren Rucksack, den wir im Taxi liegen gelassen hatten. Das musste ja mal passieren: quengelnde Kinder, ein Moment der Unachtsamkeit….. Was mal wieder beweist, dass die größte Gefahr beim Reisen die eigene Dusseligkeit ist. Zumindest waren weder Pässe noch Kamera noch Geld darin. Glück im Unglück.
Zum Ausgleich gab es dann noch einen „Mexico City Magic Moment“ für uns:
Eines Abends -die Kinder sollten gerade schlafen gehen- dröhnten dunkle, vielstimmige Trommelklänge zu den Fenstern unseres Apartments herauf. Neugierig folgten wir ihnen bis zur nahen, wunderschönen Plaza Tolsa und entdeckten ein archaisches Spektakel. Dutzende Tänzerinnen und Tänzer mit Rasseln um Hand- und Fußgelenke bewegten sich ekstatisch zu indianischen Trommeln, beobachtet von einer ehrfürchtigen Menge. „Aztec Dance, very old“, raunte uns der ältere Herr neben uns stolz zu.
Unter denen, die hier ihren kriegerischen Vorfahren huldigten, waren Männer und Frauen jeglichen Alters, junge Burschen mit indianischen Gesichtszügen ebenso wie ältere grauhaarige Damen. Wir beobachteten das Schauspiel fasziniert. Noch als wir Stunden später im Bett lagen, dröhnten die Trommeln weiter.